7. Mai 2024

60+: Lust auf Loslassen

Von 100 auf 0? Lieber nicht. So antwortete ich jeweils auf die Frage, wie ich meine letzten Jahre der Erwerbstätigkeit gestalten möchte. Unterdessen habe ich mein Pensum auf 60 % reduziert.
Autor/in: Von Susanna Häberlin, Leiterin Kommunikation
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Wer auf die 60 zugeht, kennt es: Die Pensionierung ist überall ein Thema und man wird ständig nach seinen Plänen gefragt. Kollege X will noch möglichst lange arbeiten, Kollegin Y würde am liebsten schon heute aufhören. In der Politik ist das Pensionierungsalter ein Dauerbrenner und bei Versicherungen und Finanzinstituten ist man plötzlich eine interessante Zielgruppe für allerlei Beratungen.

Neue Rahmenbedingungen mit der AHV-Reform

Mit der AHV-21-Reform, die seit Anfang Jahr in Kraft ist, ist der Rentenbezug flexibler geworden. Männer und Frauen können die Rente zwischen 63 und 70 Jahren ab einem beliebigen Monat beziehen. Neu ist es auch möglich, nur einen Teil der Rente zu beziehen. Diese Flexibilisierung erleichtert es, die Erwerbstätigkeit schrittweise zu reduzieren.

Wie wäre es, die letzten Erwerbsjahre ruhiger anzugehen und das Pensum vor der Pensionierung zu reduzieren? Für die Umsetzung spielt Geld naturgemäss eine zentrale Rolle, man muss genau rechnen, was drin liegt. Denn nicht nur der Lohn sinkt bei einer Pensumsreduktion, sondern auch die Rente.

Doch es geht nicht nur ums Geld. Für eine Generation, in der die Arbeit einen so hohen Stellenwert hat, ist die Einstellung zentral: Bin ich bereit, loszulassen?

Reduzieren und sich neu definieren

Hansjörg Künzli, Professor für Angewandte Psychologie an der ZHAW, reduziert am 1. August sein Pensum auf 50 % und gibt die Leitungsfunktion seiner Fachgruppe ab. Er hat schon länger mit dem Gedanken gespielt, sich vorzeitig pensionieren zu lassen. Aufgrund eines gesundheitlichen Zwischenfalls hat er sich für eine schrittweise Reduktion entschieden.  

Brigitte Basler arbeitet bei benevol Aargau und ging letzten Sommer in Altersteilzeit, wie sie es nennt. Sie hat ihre Leitungsfunktion beim Mentoring-Programm Tandem abgegeben und arbeitet nur noch 30 %.

Auch ich selbst habe den Schritt zu einer klassischen Bogenkarriere gewagt: Ich bin aus der Geschäftsleitung ausgetreten und arbeite seit Januar nur noch 60 %.

Abgeben, neue Rolle suchen

Hansjörg hat schon einige Aufgaben abgegeben. Es gehe ihm gut dabei, sagt er, er müsse sich nur selten aktiv zurücknehmen. Zum Beispiel als in «seinem» Team eine neue Stelle ausgeschrieben wurde. «Es hat mich schon gejuckt mitzureden. Aber es ist auch klar, dass mein Nachfolger den Entscheid treffen muss.» 

Brigitte gibt zu, sie hätte fast ein halbes Jahr gebraucht, um in ihre neue Rolle hineinzuwachsen.  «Zu Beginn übernahm ich noch viel zu viel Verantwortung und verfolgte das Geschehen auch an meinen freien Tagen. Loslassen ist gar nicht so einfach.»

Ich habe mich mit der neuen Rolle schon ziemlich gut angefreundet. Bei gewissen Themen bin ich froh, dass ich nicht mehr mitreden muss, bei anderen muss ich mich zurückhalten. Grobe Schnitzer sind mir bis jetzt keine passiert.

Rahmenbedingungen, damit es klappt

«Es braucht einen Arbeitgeber, der mitmacht. Die ZHAW hat die passende Struktur für einen solchen Schritt und mein Chef hat mich von Anfang an unterstützt.» Da Hansjörg schon vor mehr als einem Jahr die Änderung aufgegleist und kommuniziert hat, konnte er seinen Nachfolger aufbauen und einarbeiten, was den Übergang fliessend macht. Bei Brigitte war es ähnlich: «Mein Vorgesetzter und das ganze Team tragen die Veränderung mit, ein Gewinn für alle ist der Know-How-Transfer.»

Auch meine Vorgesetzte hat sehr positiv auf meinen Wunsch reagiert und gemeinsam haben wir den Wechsel sorgfältig geplant. Aus Sicht des Arbeitgebers brauche es «klare Strukturen und konsequentes ‹Rollenwechsel-Handeln›», sagt Sonja Brönnimann, Vorsitzende der GL von ask!. Wichtig sei auch, «dass die neue Rolle genügend Wertschätzung erhält».

Unterstützung von der Familie

Nicht nur der Arbeitgeber muss die Entscheidung unterstützen. Wie bei jeder grösseren Veränderung in der Berufskarriere trägt auch eine positive Einstellung des persönlichen Umfeldes zum guten Gelingen bei. Am wichtigsten bleibt aber das eigene Ego, Stichwort «Statusverlust»: Wenn man eine Führungsaufgabe abgibt, muss man damit leben können, im Betrieb weniger wichtig zu sein. Man muss loslassen wollen.

Was man dafür gewinnt? Mehr Zeit für all das, was im vollgetakteten Arbeitsleben häufig zu kurz kommt: mehr Schlaf, Energie für eine gemeinnützige Tätigkeit, mehr Zeit für das Sozialleben und mehr Zeit an der frischen Luft. Hansjörg freut sich darauf, sagen zu können: «Morgen ist schönes Wetter, ich geh nach draussen.»

 

Weitere Informationen

Übersichten

Broschüre Altersvorsorge Basis: Basic-Infos zum 3-Säulen-System der Altersvorsorge in der Schweiz; erste Übersicht für Leute, die sich noch nie damit auseinander gesetzt haben. Die Pensionierung in der Schweiz planen (ch.ch) Basics in verständlicher Sprache, mit weiterführenden Links.

AHV

Informationsstelle AHV/IV (ahv-iv.ch) Grundlegende Informationen zur AHV, diverse Merkblätter und Spezialthemen; man kann seinen individuellen Kontoauszug bestellen und sich ein darauf basierendes Altersguthaben berechnen lassen.  

Pensionskasse

Pensionskassen haben unterschiedliche Reglemente. Man muss sich bei der eigenen Pensionskasse informieren, welche Möglichkeiten sie anbietet.

Vorsorgeberatungen

Finanzinstitute und Versicherungen bieten umfassende Vorsorgeberatungen an. Diverse Checklisten und Merkblätter sind online gratis erhältlich, die Beratungen sind tendenziell kostspielig. Eine Vorsorgeberatung nur für Frauen bietet die Frauenzentrale Zürich.

Bücher zum Thema

Gute Vertiefungen zu allen Themen rund um die Pensionierung bieten verschiedene Beobachter-Ratgeber: «Arbeiten nach der Pensionierung», «Mit der Pensionierung rechnen», «Frühpensionierung planen» und «Glücklich pensioniert - so gelingts!»

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